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Nr. 17/2017, Bremen, den 15.9.2017, Nr. 488, 15 Jahre kleinmexiko.de: Danksagung

Wakan oder Umbrüche (12)

        
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Schmetterling auf einer Blume
Schmetterling auf einer Blume


Manchmal nehme ich etwas Verstörendes wahr, sehe mich aber außerstande, für den Zustand, in den mich das Verstörende versetzt, einen präzisen Ausdruck zu finden. So hat mich die Tatsache, dass Meisen und Schmetterlinge in diesem Jahr kaum aufgetaucht sind, verstört. Jetzt habe ich begriffen, dass es mir so geht wie den Lakota-Sioux, als sie, die bis dahin Fußgänger waren, zum ersten Mal mit Pferden konfrontiert wurden, die die Europäer importiert hatten. Sie hatten kein Wort für dieses Tier und griffen zu einem semantischen Trick: Sie nannten das Pferd 'Šunka wakan', den 'unbegreiflichen Hund'. Mein Problem ist gegenüber den Lakota-Sioux polverkehrt und doch ähnlich: Ich müßte lügen, wenn ich behaupten wollte, dass ich es trotz möglicher wissenschaftlicher Erklärung wirklich begreife, warum Tiere, die bis jetzt da waren, plötzlich verschwinden. Unbegreiflich ist es mir auch deshalb, weil ich (als Fanatiker der Wahrnehmung) diese Tierpopulationen nicht beim Verschwinden habe beobachten können. Dazu kommt, dass mir durch dieses Verschwinden die vertraute Welt unheimlich geworden ist.
 
Meine Seele (soweit vorhanden) birgt die Erinnerung an eine längst verschwundene Welt, die sich erheblich von der Gegenwartswelt unterscheidet. Würde man dem kleinen Jungen, der ich einmal war, seine vertraute Umwelt schlags verschwinden lassen und ihn unvermittelt in die Gegenwart versetzen, er wäre sicherlich verstört und hätte Mühe, seine Umwelt zu begreifen. In der Welt dieses kleinen Jungen hatte beispielsweise längst nicht jede Familie Anschluß an fließendes Frischwasser und an eine Kanalisation, einen Fernseher, ein Telefon oder ein Auto, ja nicht einmal für jedes größere Kind ein Fahrrad. Die Kreisstadt hatte keine Fußgängerzone, sondern überall Straßen und Bürgersteige. Sie hatte kein Gewerbegebiet mit großen Einkaufszentren, sondern Fachgeschäfte in der Innenstadt.
 
Die umliegenden Dörfer hatten teilweise mehrere Lebensmittelläden. Im ländlichen Raum lebten die alten Menschen meistens im Schoß der Familie. Es gab keine Pflegedienste, sondern vielleicht eine sogenannte Gemeindeschwester, die nach dem Rechten sah. Ab einem gewissen Grad der Gebrechlichkeit waren die Alten für die Öffentlichkeit unsichtbar, weil sie nur noch 'hinter dem Ofen saßen'. Ausländisch anmutende Menschen waren etwa im Stadtbild die absolute Ausnahme.
 
Würde man den kleinen Jungen, der ich war, heute in einem Dorf seiner Heimatregion aussetzen mit dem Auftrag, einen kleinen Lebensmittel-Einkauf zu erledigen, würde er auf für ihn beängstigende Weise scheitern, weil es sehr wahrscheinlich keinen Lebensmittelladen mehr gäbe. Er würde aber eher als früher einen sehr alten Menschen treffen, der einen Rollator durch die Gegend schiebt. Ihn könnte er fragen, wo die Läden von damals geblieben sind. Vielleicht bekäme er den Rat sich in den nächsten Bus in die Kreisstadt zu setzen und dort sein Glück zu versuchen. Im Bus würde er unter Umständen beobachten können, dass viele seiner Altersgenossen mysteriöse, rechteckige Brettchen in der Hand hielten, auf die sie unentwegt starrten und auf deren Oberfläche sie seltsame Fingerbewegungen vollführen. Wakan! Sie würden vielleicht ab und an die Köpfe gemeinsam über ein Brettchen beugen und kurz lachen. Dann würden sie wieder in ihr seltsames Treiben versinken. Unterwegs hätte er vom Bus aus die für ihn irritierende Menge von Autos verschiedener Marken und Größen sehen können, die auf der Straße unterwegs sind.
 
Er würde im Zentrum der Kreisstadt keine Autostraße mehr vorfinden, sondern nur noch über die ganze Breite der Straße gezogene Bürgersteige, die zum Teil mit Tischen und Stühlen vollgestellt wären, die zu Cafés, Imbissen und Restaurants gehören. Unter Umständen würde er zu seiner wachsenden Verzweiflung auch in der Innenstadt keine Lebensmittelgeschäfte mehr vorfinden. Bleibt zu hoffen, dass eine mitleidige Seele ihn in einen Stadtbus zu einem Gewerbegebiet gesetzt hätte, in dem er seine Besorgungen endlich in einen Supermarkt hätte erledigen können, dessen Sortiment ihn durch seine Größe und Beschaffenheit ihn in Verwirrung versetzt hätte. Die Verwirrung wäre auch dadurch entstanden, dass er diese Vielfalt kaum zu deuten gewußt hätte und in ihr quasi ertrunken wäre. Er hätte unter Umständen Dinge, die auf seinem Einkaufszettel gestanden hätten, gar nicht mehr 'als solche' gefunden.
 
Er hätte diese Welt unter Umständen auch als 'Plastikwelt' empfunden, die im Gegensatz zu seiner teilweise noch naturnahen Welt eine beängstigende Anmutung von Künstlichkeit und Leblosigkeit gehabt hätte. Er wäre zum Schmetterling auf der Plastikblume geworden. Wakan!
 

vgl.
Umbrüche (10)

Zu!! oder Geschlossene Gesellschaft

Aus dem Redaktionsstübchen (8)

Umbrüche (22)

Umbrüche (25)

 
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